Der verrückte Mann beim Fernsehen: David Hinzmann über Kindheit, Karriere und ein Leben als Familienvater mit ADHS


Es  ist 1996 und ich sitze im Mathematikunterricht der dritten Klasse. Es muss Winter sein, denn vor den Fenstern unseres Klassenzimmers ist der Schulhof noch vollkommen dunkel. Der helle Raum spiegelt sich in den düsteren Scheiben und ich sehe darin die verschwommen Gesichter meiner Schulkameraden. An solchen Tagen hoffe ich immer darauf, dass jemand in den Nachbarhäusern ein Licht einschaltet, damit ich es mit der Reflexion meiner Umgebung vermischen kann. Ein leuchtendes Fenster schwebt sachte über die Tische und Stühle hinweg, sobald ich ein Auge mit meiner Kinderhand abdecke und den Kopf ganz leicht hin und her bewege. Nun, vermutlich habe ich es mit diesen Bewegungen zu weit getrieben, denn Frau Z. (die Mathematiklehrerin und das Oberhaupt unserer Grundschule) taucht plötzlich zwischen dem Fensterglas und meiner Fantasie auf und stellt mir überraschend folgende Frage: „David, was habe ich gerade eben gesagt?“ Ihr Ton wirkt absolut beunruhigend und ich bekomme Panik. Natürlich kann ich ihr keine zufriedenstellende Antwort geben, denn ich habe keinerlei Informationen über die Unterrichtsinhalte der vergangenen zehn Minuten. Ich gestehe der Dame also, dass ich bis eben ein eher schwieriges Publikum gewesen bin, entschuldige mich für mein Verhalten und sie lacht. Sie lacht und alle anderen Schüler sind davon sichtlich verwirrt. Ich sowieso. Dann beginnt die gute Frau damit, mich zu bestrafen. Sie kichert munter immer weiter, während sie mir erklärt, sie werde nun solange lustige Gesichter an ihre Tafel zeichnen, bis ich mich wieder an ihren letzten Satz erinnern kann. Als Erziehungsmethode ist das nicht nur kontraproduktiv und irgendwie dämlich, sondern obendrein noch überaus grausam, denn jetzt lachen nach und nach auch noch meine Mitschüler. Und ich? Ich ertrage etwa drei oder vier ihrer hingeschmierten Kreidefratzen und dann breche ich heulend zusammen, während die Kinder mich unter der Anleitung ihrer durchgeknallten Lehrerin auslachen.



Zeitsprung. Mein Opa wird 50 Jahre alt und die Feier im Kreise von Freunden und Familie ist in vollem Gange. Natürlich ist es spät. Sehr, sehr spät sogar. Und während mein Großvater betrunken zum Gesang von Orloffs Schwarzmeerkosaken mit sich selbst tanzt, hat man seinem kleinen Enkel ein Trampolin ins Wohnzimmer gestellt, damit der überdrehte Bursche genügend Beschäftigung bekommt. Munter hüpfe ich daher von meinem Sprunggerät auf das Sofa, von dort aus auf den Sessel und wieder zurück. So geht das eine ganze Weile, bis ich etwas später sogar einen Sprung an die Wand wage, mich an einem höher gelegenen Fensterbrett festklammere und kurz darauf einen Türrahmen zum Klettergerüst umfunktioniere. Aber damit nicht genug, denn wie das Familienvideo dieses Abends festgehalten hat, wiederhole ich ununterbrochen Gesprächsfetzen der zeitgleich stattfindenden Unterhaltungen und mische die Worte mit nervigen Tiergeräuschen. Es herrscht das absolute Chaos. Irgendwann tanzt sich mein Opa einen Hausschuh vom Fuß und ich schnappe mir diesen. Kann mir heute noch jemand verraten, warum ich mir daraufhin wieder und wieder mit dem Pantoffel auf den Kopf schlage?
Ich hatte diese und ähnliche Erfahrungen der Vergangenheit ganze 20 Jahre lang aus meiner Erinnerung gestrichen. Jener Kindheitsaspekt war für mich ganz einfach nicht mehr abrufbar. All das wurde von mir vorzüglich verdrängt und der kleine David musste irgendwann lernen, seine auffälligen Eigenarten hinter anderen Dingen zu verstecken, um nicht dauerhaft Ärger auf sich zu ziehen. Übrigens: Der Grund dafür, dass ich die Veröffentlichung meines Textes nun schon seit drei oder vier Wochen vor mir her schiebe, ist der Tatsache geschuldet, dass ich eine Menge an persönlichem Elend darin verpacken möchte. Das ist hart, denn ich finde es nicht gerade leicht, hier öffentlich zuzugeben, dass mir ein achtjähriger Mitschüler einst in mein erstes Freundschaftsbuch notierte, er würde meine nervige Art hassen. Weitere Kinder schlossen sich daraufhin seiner Sache an und am Ende blieb mir nichts weiter übrig, als große Teile ihrer Eintragungen wieder zu schwärzen, um meinen Eltern nicht zu zeigen, wie unbeliebt ich doch war. Erwachsene fanden mich ohnehin anstrengend und unangenehm, aber besonders schlimm traf es mich vermutlich, dass meine sogenannten Freunde ganz ähnlich von mir dachten. Um in der Gunst dieser herzlosen Menschen wieder aufzusteigen, wählte ich irgendwann Humor als meine einzige Waffe gegen die Ablehnung meiner Altersgenossen. Ich wurde zum Klassenclown, baute meine Kreativität immer weiter aus und lernte am Ende sogar, meine Defizite ganz zu überspielen, indem ich Menschen durch überzeugendes Auftreten von mir begeisterte. Gott, für die Anstellung beim Fernsehen musste ich schließlich nicht einmal mehr Qualifikationen vorweisen, so perfekt konnte ich mich mittlerweile verkaufen.
Erst sehr viel später, kurz nach meinem 29. Geburtstag, wurde mir in der Psychiatrie des Universitätsklinikums Leipzig verdeutlicht, welche Muster sich in all der Zeit durch mein Leben gezogen hatten. Ein ganzes Jahr lang führte ich in der Klinik Gespräche mit unterschiedlichen Ärzten, ließ Messungen und Tests über mich ergehen, legte die Beurteilungstexte meiner Grundschulzeugnisse vor und beantwortete einen Fragebogen nach dem anderen. Trotzdem fiel es den Medizinern anfangs recht schwer, eine gesicherte Diagnose zu stellen, denn das eigentliche Problem hatte in den langen Jahren ohne Behandlung nun zahlreiche Begleiterscheinungen ausgelöst. Hinter Depressionen und sich häufenden Panikattacken, Wutausbrüchen und massiven Erinnerungslücken, versteckte sich eine unerkannte Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADS/ADHS) aus meinen Kindertagen. Als das endlich eindeutig feststand, wurden mir viele Dinge zum ersten Mal wirklich klar. Das „Betriebssystem“ in meinem Hirn verfügte bereits im Grundschulalter über keinerlei Algorithmus, um zwischen wichtigen und unwichtigen Informationen zu unterscheiden. Mein Kinderkopf hatte stets versucht, alle ankommenden Eindrücke des Universums zeitgleich und ungefiltert auf meine Festplatte zu ziehen. In so einem Fall war es also vollkommen egal, wie simpel eine Schulaufgabe auch sein mochte, ich war stets überfordert, weil mir schlicht und ergreifend die Kapazitäten im Oberstübchen fehlten. Von außen betrachtet ist das vermutlich nur schwer zu verstehen, wenn man deutlich genug einen Jungen vor sich sieht, der an einer einzigen Aufgabe hockt und schlichtweg nicht damit anfängt. Das war die Einstellung meiner eigenen Lehrer und es scheint noch immer die gängige Meinung unter den meisten Pädagogen zu sein. Vor wenigen Wochen, auf einem Elternabend im Kindergarten meiner Tochter zum Beispiel, schwärmte die Einrichtungsleiterin von einem skandinavischen Buch über Erziehung und Bildung. Aus ihrer Lektüre schloss sie darauf, dass man die Konzentrationsfähigkeit von Kindern aus der Beobachtung ihres Spielverhaltens ableiten könnte. Sie war felsenfest überzeugt davon, dass Mädchen und Jungen, die sich lange und intensiv mit einer frei gewählten Tätigkeit befassen können, zweifelsfrei auch die nötige Leistungsfähigkeit für 45 Minuten Schulunterricht besitzen. Aber das ist falsch und es muss in der Einstellung solcher Menschen ganz dringend etwas korrigiert werden! Denn der Schein kann trügen. Unter ADS/ADHSlern gibt es Kinder mit und Kinder ohne Hyperaktivität. Mädchen beispielsweise sind häufiger die sogenannten „Träumer", die ihre Gedanken nie dort haben, wo sie gerade verlangt sind. Da diese Menschen ruhiger in Erscheinung treten, ist es oftmals noch sehr viel schwieriger, die Ursache für ihr Verhalten zu erkennen. Schubladendenken und die beliebten Stempel „zu langsam“ und „dumm“ werden auch heute noch gerne von deutschen Lehrern zum Einsatz gebracht. Als Schüler habe ich das so hingenommen und blieb brav hinter meinen Möglichkeiten. Doch was wird aus Kindern, deren ADHS sich nicht irgendwann „auswächst“?

Jahrelang war ich Chefredakteur und Moderator bei einem privaten Fernsehsender, hatte dort täglich erfolgreiche Beiträge produziert, irgendwie den Tagesplan eingehalten und sogar wieder und wieder Fernsehpreise gewonnen. Ist das mit ADS bzw. ADHS überhaupt möglich? Ja! Weil so ein Tag beim Fernsehen genau das bietet, was hyperaktive Kinder dazu zwingt, auf Bäume zu klettern und sich den größten Gefahren auszusetzen. Fernsehen ist aufregend und schnelllebig. Nachrichten zu produzieren bot meinem kranken Kopf also das, was er ohnehin schon ständig tat, nur dieses Mal war es mir nützlich, dass meine Gedanken schneller und intensiver durch die Vielfalt an Möglichkeiten der verfügbaren 24 Stunden rasten. Man bewunderte mich für die bloße Masse meiner einzigartigen Ideen. Tag und Nacht entwickelte ich neue Programminhalte. Wie habe ich das nur gemacht? Häufig kann man bei Betroffenen ein sogenanntes „Hyperfokussieren“ beobachten. Das bedeutet, dass es durchaus Tätigkeiten gibt, bei denen Personen mit ADHS sich lange und intensiv mit einer einzelnen Sache beschäftigen und dabei konzentriert arbeiten können. Ich hatte kaum Probleme damit, stundenlang zu zeichnen oder fantasievolle Geschichten zu erfinden (also auch Filme zu machen) und dabei alles um mich herum vollständig zu vergessen. Oh, kann mir jemand gerade einen Tipp geben, wie ich meine Frau später von unserer Küche fernhalte, wo sich der Abwasch bereits seit Tagen stapelt? Mein Text kommt voran, aber unser Hund fühlt sich vernachlässigt. Der Hyperfokus ist also Segen und Fluch zugleich und selbst meine eigene Mutter sagte unwissend einmal: „Aber er konnte doch so schön mit seinen Tierfiguren spielen. Lange und allein.“ Ja, aber er konnte sich oft nicht daran erinnern, dass der Hausschlüssel im Kühlschrank liegengeblieben war. Denn leider ist ADHS ungemein vielschichtig und ausreichende Betätigung allein behebt höchstens einen geringen Teil der Störung. Betroffene fallen in sehr vielen unterschiedlichen Bereichen unangenehm auf. So führte Impulsivität in meinem Leben stets dazu, dass ich genau das sagen musste, was mir gerade in den Sinn kam, ohne auch nur annähernd über mögliche Konsequenzen meines Handels nachdenken zu können. Wurde ich dafür einmal getadelt, kam mein Jähzorn zum Tragen und ich schlug mit Worten um mich oder zerstörte Dinge, die meinen Kritikern besonders wichtig waren. Viele dieser wirren Momente sind noch heute auf Video festgehalten. Einige wurden sogar sachsenweit im TV gesendet.
Zeit für einen kleinen Rückblick: Es ist 2010 und ich darf mein erstes Fernsehinterview mit einer wirklich wichtigen Persönlichkeit führen. Es handelt sich dabei um Burkhard Jung, den Oberbürgermeister der Stadt Leipzig. Ich bin genau so, wie ich eben bin und sage daher auch genau das, was ich gerade denke. OBM Jung lacht, ich habe daher das Gefühl, dass wir uns vor der Kamera sehr gut verstehen. Erst später bekommt mein Studioleiter einen Anruf von der Stadtverwaltung und es wird sich wütend nach meinem Namen erkundigt. Eine Woche darauf führe ich ein ganz ähnliches Gespräch im Büro des Wirtschaftsbürgermeisters Uwe Albrecht. Ich unterstelle ihm, jemand würde am Morgen seine Zeitung so vorbereiten, dass er genau weiß, was er von der Welt da draußen zu halten hat, weil mein Kopf während des Interviews eine Zeitung entdeckt hat, auf der einige Passagen mit einem Textmarker gekennzeichnet sind. Der Politiker ist sauer und sorgt dafür, dass alle anderen Bürgermeister meine geplanten Besuche überraschend wieder absagen. Mir ist das reichlich egal, denn die Bildzeitung berichtet nun über den Fall des Moderators, der in Leipzig zum Bürgermeisterschreck avanciert. Was will man als junger Menschen denn mehr? Und darum werde ich immer bissiger, arroganter und größenwahnsinniger in meinen Fernsehproduktionen. Aus meiner eigenen Vergangenheit heraus toleriere ich keinerlei Ungerechtigkeit mehr. Darum wage ich mich irgendwann an ein Thema, vor dem sich selbst die überregionale Tagespresse bisher in Acht genommen hat. Im Alleingang greife ich die Bürgermeisterin einer sächsischen Kleinstadt an und decke im TV ihre miesen Machenschaften auf. Am Ende muss die Dame ihren Platz im Rathaus sogar räumen und ich halte mich fortan für den wichtigsten Journalisten, den der Osten jemals gesehen hat. Darauf folgt etwas, das mein Vorgesetzter in seiner Zeit als Medienmacher noch nie zuvor erlebt hat, denn ihm flattern gleich zwei Aufsichtsbeschwerden der Sächsischen Landesanstalt für privaten Rundfunk und neue Medien (SLM) ins Haus. In den unlustigen Schreiben geht es zwar ausschließlich um mich und meine zynischen Moderationstexte in seriösen Nachrichtenformaten, aber auch das tangiert mich nicht sonderlich, denn mittlerweile bekomme ich bereits meinen dritten Fernsehpreis verliehen. Ich lebe in einer vollkommen anderen Welt und die Realität nehme ich nur noch sporadisch für voll. Wenn ich nicht im Sender bin und alles auf den Kopf stelle, arbeite ich mir daheim die Nächte um die Ohren. Wieder ist es die Bildzeitung, die meine abartigen Zeichnungen von Richard Wagner und Johann Sebastian Bach mit aufgebrochenen Kiefern und fauligen Zähnen zur Schau stellt. Immer häufiger gerate ich jetzt mit dem Geschäftsführer meines Senders aneinander, wobei ich seine Sicht der Dinge nicht akzeptieren möchte, ihn beschimpfe und irgendwann sogar anschreie. Trotzdem bringe ich, vor allem in meiner eigenen Late-Night-Show, auch weiterhin das Publikum zum Lachen. Als mir 2013 der Deutsche Lokalfernsehpreis verliehen wird, kommt der Humor meiner improvisierten Dankesrede derartig gut bei den Gästen im Saal an, dass ich überschnappe und auf der Bühne versuche, meinen Kameramann zu küssen. Im letzten Jahr meiner Fernsehzeit wird der Sender von außen nun dazu genötigt, sich öffentlich für den Inhalt meiner Livesendungen zu entschuldigen. Ich inszeniere jeden meiner Auftritte als große David Hinzmann Show und langsam aber sicher habe ich eine derartige Geschwindigkeit aufgenommen, dass ich einfach nur noch weiter und weiter und weiter und weiter machen kann, ohne dabei logische Entscheidungen zu treffen. Ganz allein fülle ich täglich fast 80 Prozent der Hauptsendezeit und zunehmend geraten hierbei die einfachsten Dinge vollkommen durcheinander. Ich rede und rede und rede und was ich sage, ist belanglos und oft sogar vollkommen falsch. Jetzt schalten sich immer mehr Zuschauer ein und kritisieren dieses unerträgliche Verhalten. Schließlich bekomme ich einen Schnupfen, der mich dazu zwingt, zuhause zu bleiben und meine Geschwindigkeit von einem Tag auf den anderen zu reduzieren. Die Welt steht also plötzlich still, nur der Kopf macht froh und munter weiter. Irgendwann ergeht es mir in etwa so, als hätte man im Fitnessstudio das Tempo des Laufbandes unterschätzt. Ich gelange an meine Grenzen, gerate ins Straucheln, falle zu Boden und mein Leben knallt ungebremst gegen die nächste Wand.


Daraufhin habe ich drei Stunden auf dem Fliesenboden im Badezimmer gelegen und geheult. In absoluter Dunkelheit. Zum ersten Mal ging es mir dreckig genug, um zu begreifen, dass das alles nicht mehr normal sein kann. So und nicht anders hat es sich damals zugetragen. So und nicht anders habe ich den Entschluss gefasst, mich in einer psychiatrischen Einrichtung untersuchen zu lassen. So und nicht anders fand ich heraus, dass ADHS deutlich mehr ist, als nur eine Ausrede für elterliches Versagen. Im Oktober des vergangenen Jahres stimmte ich schließlich der medikamentösen Behandlung zu und begann damit, täglich 40mg Methylphenidat (Handelsname Ritalin) einzunehmen. Durch diesen Entschluss wurde mir vollkommen unerwartet eine Art grauer Schleier von meinen Augen gerissen. Meine Welt wurde klarer und die Veränderung nahm ihren Lauf. Mir stehen auch heute sofort wieder die Tränen in den Augen, wenn ich daran zurückdenke, wie ich das erste Mal ein Gefühl von Stille im Kopf hatte. Ich weiß wirklich nicht, ob man das als gesunder Menschen so einfach zu fassen bekommt, aber es fühlte sich vermutlich so ähnlich an, als würde man zum allerersten mal die Tanzfläche einer sehr lauten Diskothek verlassen dürfen, um ganz für sich allein durch einen ruhigen Herbstwald zu wandern. Diese Ruhe brachte sehr schnell eine erhöhte Konzentration mit sich, die wiederum dazu führte, dass ich wichtige Aufgaben nun eindeutig schneller und zielsicherer durchführen konnte. Den wichtigsten Beweis für die Wirkung von Ritalin und Co. brachte mir jedoch meine dreijährige Tochter. Eines Tages teilte sie mir mit, wie toll sie es doch findet, dass ich auf einmal ganz anders mit ihr umgehe. Ich akzeptiere im Spiel nun auch andere Ideen als meine eigenen und kann gemeinsame Beschäftigungen lange Zeit interessiert verfolgen, ohne gleichzeitig den Fernseher laufen zu lassen oder auf meinem Handy zu tippen.
Im Sinne meiner Familie husche ich soeben über Wikipedia. Dort heißt es: „Auf der Grundlage von Familien- und Zwillingsstudien wird die Erblichkeit für das Risiko, als Kind von ADHS betroffen zu sein, auf 70-80 % geschätzt.“ Was wird also aus meiner Tochter, wenn ich mich nicht dafür einsetze, die vielen Vorurteile in unserem Umfeld abzubauen, die mit dieser Krankheit noch immer falsch verknüpft sind? Was wird aus all den anderen Kindern und, ja, auch aus den vielen undiagnostizierten Erwachsenen, die sich anhören müssen, wie faul und nutzlos sie angeblich sind? Medikamente zu akzeptieren ist schön und gut, aber es beeinlusst leider nur das Hier und Heute. Wer erst mit 18, 25 oder sogar 40 Jahren von seinem Leiden erfährt, dem fehlen bereits unendlich viele Fähigkeiten, die andere Menschen in recht jungen Jahren erlernen. Das geht beim einfachen Bruchrechnen los und es endet mit der Strukturierung eines ganz normalen Tages. Sprach ich schon über meinen Abwasch? Den Hund? Die letzte Chance, um mein Kind aus dem Kindergarten abzuholen, bevor es dort übernachten muss? Besonders Alltagstätigkeiten brechen mir wieder und wieder das Genick, weil sie so furchtbar einfach wirken. Staubsaugen ist wahrlich keine Raketenwissenschaft, aber es verlangt eine gewisse Disziplin, wenn man es an einem Stück erledigen möchte. Jeder Raum im Haus ist ein neues Abenteuer und im Badezimmer bin ich einmal auf dem Staubsauger „spazieren“ gefahren. Huh, die Ausreden, mit denen ich anschließend erklären musste, weshalb der Plastikaufsatz am Rohr zerbrochen ist. Solch grober Unfug, aber auch Fehler durch Unachtsamkeit oder Versäumnisse, führen in eine Existenz, in welcher man unentwegt mit irgendwelchen Konsequenzen rechnet. Will man es jedoch besser machen, wird man natürlich noch langsamer und kontrolliert jeden Schritt ein viertes oder fünftes Mal. Komplexe Aufgaben möchte man hingegen ganz vermeiden. Erst in der vergangenen Woche habe ich unser Tiefkühlfach offen stehen lassen, als ich Einkäufe verräumen sollte und meine Frau war recht ungehalten darüber, dass wir gutes Essen wegwerfen mussten. Kurzzeitig kam mir der Gedanke, nie wieder Lebensmittel einzuräumen. Aus dem gleichen Grund fahre ich kaum noch Auto, denn womöglich würde meine Frau meinen Fahrstil kritisieren. Und falls wir einmal zum Essen ausgehen, drücke ich ihr sogar mein Bargeld in die Hand und lasse sie für alles bezahlen, weil ich keinerlei Rechenfehler mehr auf mich nehmen möchte. Die Liste dieser Spinnereien ist endlos und dabei handelt es sich hier nicht einmal mehr um ADHS, sondern um Beispiele für viele Folgebeschwerden, die das Überleben im Alltag leider nicht angenehmer gestalten. Muss das sein? So soll meine Tochter weder aufwachsen, noch später einmal leben müssen. Aus diesem Grund schlage ich, sinnbildlich gesprochen, mit meiner Faust auf den Tisch und mache meine privaten Erfahrungen öffentlich. Es beunruhigt mich die grenzenlose Ignoranz, mit der sich staatlich anerkannte Erzieher und studierte Lehrer diesem wichtigen Thema nähern. Bei einer geschätzten Häufigkeit von 7,1 % der ADS/ADHS unter Kindern und Jugendlichen, was bitte könnte noch dringender sein? Wer sich Pädagoge schimpft und 2016 noch eisern behauptet, dass Disziplin und eine strenge Erziehung all diese Probleme beheben könnten, der darf auch gehbehinderte Kiddies aus ihrem Rollstuhl schubsen und sie zum Laufen zwingen!

In  den vergangenen beiden Jahren dazu gezwungen, mein Leben zu ordnen und neu auszurichten, habe ich nunmehr den Entschluss gefasst, mich noch einmal an Bühnenarbeit zu wagen. Unter dem Titel WORLD TOUR: DAVID HINZMANN LIVE habe ich die Erfahrungen der zurückliegenden Jahre in einem Mix aus Impro-Show und Stand-up-Comedy verarbeitet. Schnell, laut, gewagt und zeitgleich so schonungslos offen und ehrlich, dass es beinahe wehtut. +++ Spoiler +++ Ich stehe auf der Bühne, philosophiere im einen Moment über Katzen auf YouTube und im anderen Augenblick berichte ich darüber, wie ich mir einst mit meinem Akkubohrer in den Hals dübeln wollte, damit dieses Gefühl der Überforderung endlich verschwindet. +++ Spoiler Ende +++ Ist das noch Comedy? Wir werden sehen.


Fortsetzung folgt...